Mein Weg mit Goethe – Erlebnisbericht von Jannik Pollmeier

Lockdown, Distanzunterricht, Homesschooling – so hatte ich mir mein letztes Jahr vorm Abitur nicht vorgestellt. Doch langsam stellte ich mich darauf ein, dass Lernen nur noch zuhause am Schreibtisch vorm Rechner stattfindet, Mitschüler und Lehrer nur noch als leuchtende Pixel auf dem Bildschirm präsent sind. Doch dann kam Goethe.

Und das kam so. Seit Dezember reise ich am St. Michael-Gymnasium unter der Leitung unserer Deutsch-Leistungskurs-Lehrerin Sabine Mendel durch die Epochen unserer Literatur, vom Mittelalter bis zur Moderne. Der entsprechende Schwerpunkt: Reiselyrik. Unterwegssein – ein auf den ersten Blick scheinbar unpassendes Thema in diesen Zeiten. Und doch für mich kurz vor der großen Freiheit so verlockend, kann man doch wenigstens in Gedanken die Erfahrungen, Erkenntnisse und Eindrücke anderer miterleben.
Auf der Zeitreise durch die Epochen sind wir mittlerweile in der Klassik angekommen, die entscheidend von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) geprägt wurde. In diesem Kontext lud uns unsere Lehrerin ein, Ahlens Goethe-Weg im Stadtwald Langst zu erkunden und uns vor Ort mit den Sinnsprüchen des wohl bekanntesten deutschen Literaten auseinander zu setzen. Einige mag es überraschen, dass ein Teil des weltberühmten Gedankengutes Goethes ganz in der Nähe zu finden ist, ist der Weg doch zwischendurch in Vergessenheit geraten. Raus in die Natur, diese Angebot nahm ich gerne an und machte mich auf den Weg in das Naherholungsgebiet.

„Ein Weg mit J. W. v. Goethe" so lautet die Inschrift des erstens Steins des so genannten „Goethe-Wegs", der bis vor ein paar Jahren noch auf der östlichen Seite der Langst vor sich hin verwitterte, doch nun frisch renoviert am Hauptweg für Spaziergänger gut erreichbar ist. Initiiert von Wilhelm Reiberg und eröffnet 1978 stehen die unterschiedlichsten Worte des Dichters und Philosophen verteilt auf elf Anröchter Sandsteine buchstäblich in Stein gemeißelt am Wegesrand. Die zusammenhanglosen Aphorismen laden dazu ein, sich Zeit zu nehmen, um in einer entspannten Atmosphäre mitten in der Natur die Gedanken Goethes von vor mehr als 200 Jahren aufzugreifen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.

Goethe nutze die kurze Prosaform der Aphorismen zur präganten Formulierung einzelner Gedanken, persönlicher Erfahrungen, Lebensweisheiten oder subjektiver Urteile. So mutet der Weg zum Teil an wie ein steinernes Poesiealbum des Literaten. Die unterschiedlichen Denkweisen und die Entwicklung Goethes, der als junger Mann noch dem Sturm und Drang mitprägte, werden auf dem „Spruchsteine-Weg" deutlich. So betonte er in seiner Jugend im Rahmen seiner Erlebnislyrik den Wert individueller Erkenntnis eines jeden Menschen und forderte dementsprechend Selbstständigkeit und die freie, schöpferische Entfaltung der individuellen Persönlichkeit. Dieses Motiv des Geniekultes wird zum Beispiel deutlich auf dem Stein mit der Inschrift: „Ursprünglich eignen Sinn/ Laß dir nicht rauben!/ Woran die Menge glaubt,/ Ist leicht zu glauben." Das Zitat stammt aus „Zahme Xenien", einer Sammlung besinnlicher Reimsprüche, und bedeutet soviel wie: Ein jeder sollte sich selbst sein eigenes Bild machen und nicht der Meinung der Menge folgen. Diese Forderung nach Individualität und Vertrauen in die eigene Vernunft erinnerte mich sehr an den Aufklärer Immanuel Kant (1724-1804), der ebenfalls forderte, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Mitläufertum war also schon damals nicht angesagt.

Repräsentativ für die spätere Klassik ist der Versuch zur Erziehung zu Harmonie, Schönheit und Tugend. Hier spielt auch die Frage nach der Beziehung des Menschen zu Gott eine große Rolle: „Als ich einmal eine Spinne erschlagen/ Dacht´ ich, ob das wohl gesollt?/ Hat Gott ihr doch wie mir gewollt/ Einen Anteil an diesen Tagen!" (Divan-Buch der Sprüche).

Das Naherholungsgebiet Stadtwald Langst bietet einen idealen Ort, um sich mit den Lebensweisheiten vertraut zu machen und seinen eigenen Gedanken Raum zu geben. Gerade jetzt in Zeiten von Corona kann der Goethe-Weg eine angenehme Abwechslung sein, um Abstand zu den aktuellen Geschehnissen zu nehmen, auch einmal in sich zu gehen und sich begleitet durch den Dichterfürsten Goethe auf eine innere Reise zu begeben.

Jannik Pollmeier 22.01.2021