Europa zukunftsfähig machen - 8b unserer Schule trifft Ex-Außenminister Sigmar Gabriel

Beckum. Während am Samstag die Besucher des Tierparks am Höxberg vom alten Wartturm aus in die Ferne blicken konnten, traf eine Delegation von sechs Schülerinnen und Schülern des St. Michael-Gymnasiums im angrenzenden Hotel auf den ehemaligen Außenminister Sigmar Gabriel und wagte mit ihm kurz vor der Europawahl einen Blick in die Zukunft der weltpolitischen Rolle Europas. Begleitet von ihrer Politiklehrerin Sabine Mendel waren sie der Einladung Bernhard Daldrups, dem Vorsitzenden der SPD des Kreises Warendorf, zum sogenannten „Europolitischen Frühstück" gefolgt.

Freudig und ein wenig aufgeregt angesichts des prominenten Gastredners tauschten sich die Jugendlichen zunächst im Rahmen eines gemeinsamen Frühstücks mit anderen Gästen der Veranstaltung zur Frage nach Deutschlands Rolle in einem neuen Europa aus. Denn genau dieses Thema beschäftigt die Klasse aus aktuellem Anlass zur Zeit in ihrem Politikunterricht, weswegen die Schülerinnen und Schüler ein großes Interesse daran hatten, zu erfahren, wie andere Bürgerinnen und Bürger sowie die Politiker, die sie in Berlin vertreten, darüber denken.

Anschließend sammelten sich alle Gäste im Sitzungssaal und warteten gespannt auf den prominenten Gast-redner: den Bundestagsabgeordneten Sigmar Gabriel. Als jener den Raum betrat und es im Saal ruhig wurde, begrüßte der Vorsitzende der SPD Beckum, Felix Markmeier-Agnesens, die Gäste und eröffnete die Diskussion mit einer kurzen Rede zu seinen Wünschen an ein soziales Europa. Ihm folgte der SPD-Kreisvorsitzende Bernhard Daldrup mit einer Kurzrede zur Frage nach der politischen Neugestaltung Europas und leitete so über zum Hauptredner Sigmar Gabriel.

„28 unterschiedliche Länder, Verfassungen, Kulturen blicken in eine gemeinsame, friedliche Zukunft – eine wahnsinnige Leistung nach zwei Weltkriegen!", stellte Gabriel zunächst einmal die historische Leistung der Europäischen Union heraus. „Und wir Deutsche als Kriegstreiber und Brandschätzer waren eingeladen!", betonte er die besondere Rolle Deutschlands in der Geschichte der EU. Sie sei das Werk von Menschen, die nach Jahren erbitterter Feindschaft und unfassbarem Leid einen unbedingten Willen nach Frieden und Gemeinschaft in sich trugen. In der Zeitspanne nur einer Generation, eines Lebens habe sich Europa zu einem weltweit einmaligen „Leuchtturm" entwickelt, welcher uns mittlerweile mehr als 72 Jahre Frieden beschere.

Gabriels Blick zurück wurde abgelöst durch den Blick nach vorne, getragen von seinen Erfahrungen als Au-ßenminister: So würden sich zur Zeit die wirtschaftlichen und damit politischen Verhältnisse auf der Welt ver-ändern, was zu einer Verschiebung der Machtzentren vom Atlantik (USA, Europa) zum Pazifik (USA, China) führe. Um dem entgegenwirken zu können, müsse Europa noch stärker mit einer Stimme sprechen. Dafür müsse es handlungsfähiger, effizienter und damit glaubwürdiger werden und deutlich mehr in Forschung und Entwicklung, Bildung und Infrastruktur investieren, vor allem im Süden Europas. Einem gemeinsamen europäischen Mindestlohn erteilte Gabriel eine Absage, er sei von den wirtschaftlich schwächeren Ländern weder leistbar noch gewollt, da sie eine Zerstörung ihrer Industrie und damit Arbeitsplätze fürchten würden. Sinnvoll sei stattdessen „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort".

Als schwierig beschrieb der ehemalige Außenminister die Gestaltung der Beziehungen zu den zukünftigen Großmächten und internationalen Institutionen wie der NATO. Freundschaftliche, wie strategische Bündnisse mit ihnen seien so wichtig wie nie. Aber auch unangenehme Aufgaben, wie eine stärkere militärische Interventionspolitik müssten - in Abwägung mit moralischen Grundwerten - angegangen werden. „Ein Spagat.", so der Bundestagsabgeordnete.

Deutschlands Rolle sieht Gabriel aufgrund seiner zentralen Lage und Bevölkerungsgröße darin, Europa gemeinsam mit Frankreich zusammenzuhalten und weiterzuentwickeln. Dazu müsse die deutsche Regierung mehr auf Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und seine Visionen von einem zukunftsfähigen Europa zugehen. Deutschlands Stärke sieht Gabriel dabei in dem Know How, der Ingenieurskunst sowie der Marke „made in Germany", die für Qualität stehe. Die Bundesrepublik sei auch aufgrund ihrer starken Exportorientierung einer der größten Profiteure der EU. Nicht von ungefähr käme es daher, dass Deutschland sich seit dem Zweiten Weltkrieg von einem furchterregenden Aggressor zu einem Sehnsuchtsort vieler Migranten entwickelt habe.

Zur Frage nach seinen Ratschlägen zum Umgang mit Flucht und Migration forderte Gabriel die Ausweitung der Entwicklungshilfe, die (auch militärische) Bekämpfung afrikanischer Gewaltherrscher, die Möglichkeit von Asylverfahren in Afrika selbst sowie eine kontrollierte begrenzte legale Zuwanderung aber auch eine konsequente Sicherung der Außengrenzen Europas.

Gabriel zog am Ende seiner Rede einen Bogen zum Anfang und schloss mit dem Appell: „Europa lebt vom Willen der Menschen zu einer Gemeinschaft in Frieden, Freiheit und Demokratie. Ohne ihre Unterstützung kann Europa nicht überleben."

Seine offenen, teils unpopulären, da unbequemen, Forderungen, zum Beispiel zu militärischen Fragestellungen, verpackte Gabriel mit einigen Anspielungen und Witzen, was seinen Vortrag kurzweilig werden ließ. Dies bemerkte auch der SPD-Kreisvorsitzende Daldrup und scherzte, dass man eine Reiszwecke hätte fallen hören können. Am Schluss beantwortete Sigmar Gabriel im Rahmen einer offenen Diskussionsrunde noch interessierte Fragen aus dem Publikum.

Natalie Nikonenko, 18.05.2019

Kommentar Natalie Nikonenko:
„Meiner Ansicht nach waren die Offenheit und der Detailreichtum Sigmar Gabriels auf eine positive Weise unerwartet. Denn viele in meiner Generation denken, dass Politiker zu jeder Zeit streng sind und jede ihnen gestellte Frage so knapp wie möglich beantworten. Zudem schätze ich es sehr, dass Sigmar Gabriel sich jede Frage angehört hat und selbst bei Themen stets ehrlich blieb, bei denen andere sich nicht geäußert hätten, weil niemand die realistische Antwort hören möchte. Nicht jeder schafft dies und es gab mir die Sicherheit, alle Fragen stellen zu können, auch wenn das Thema eines war, worüber andere lieber schweigen würden.

Mich als Vertreterin der jüngeren Generation brachten vor allem zwei Dinge zum Nachdenken: Zum einen der historische Kontext, in welchen Sigmar Gabriel die EU stellte; zum anderen die Klarheit, mit welcher Gabriel auf die Bedeutung meiner Generation für die Zukunft der EU hinwies.

So bin ich froh, an dem „Europolitischen Frühstück" teilgenommen zu haben, da dies mir und meiner Klasse, der unsere Delegation in der nächsten Stunde vom Treffen berichten wird, einen neuen Blick auf Europa gab. Daher kann ich anderen Jugendlichen nur empfehlen, solche Gelegenheiten zum politischen Austausch wahrzunehmen. Dies würde helfen, der Jugend einen Einblick auf unsere heutige Politik zu geben, welche ja unsere Zukunft bestimmt."

Natalie Nikonenko