Poetry Slam live am St. Michael Gymnasium – Ein Deutsch-LK wagt die Kür

Kurz vorm Abitur, alle Reihen sind durchgenommen, alle Themen abgearbeitet, wagte der Deutsch-Leistungskurs von Frau Mendel den entscheidenden Schritt: Raus aus der Rezeption, rein in die Produktion. Statt sich immer nur mir fremden Texten auseinanderzusetzen, griffen die Kursmitglieder selbst zum Federkiel und schrieben ihre Gedanken auf.

Nach der Analyse von Reisegedichten verschiedener Epochen fassten sie ihre eigenen Erfahrungen und Fragen zum Unterwegssein in Worte. Statt Literatur in sich aufzunehmen, drückten sie ihr Inneres aus und schickten es in die Welt. Auf den Brettern, die die Welt bedeuten: der Bühne unserer Aula. Was als einfache Unterrichtsstunde begann, wurde zu einer sehr emotionalen Reise durch die Erinnerungen, Gefühle und Sehnsüchte eines jeden Kursmitgliedes und seiner individuellen Geschichte.

Den Sieg fuhr Jana Kronfeldt ein mit ihrem Beitrag zur Reflexion der Migrationsgeschichte ihrer Familie. Weitere inhaltliche Schwerpunkte bildeten die Bedeutung zwischenmenschlicher Momentaufnahmen aus alltäglichen Situationen, die Isolation des Einzelnen in der aktuellen Zeit und die Sehnsucht nach Ausbruch und Abenteuer sowie die Frage nach der individuellen Zukunft angesichts des Sprungs in einen neuen Lebensabschnitt.

Eine kleine Auswahl der Poetry Slam-Beiträge findet sich im Angang. Eine komplette Zusammenstellung ist im Kurs zu erhalten.

Jana Kronfeldt: Vier Kreuze für Deutschland

1980
Ratsch, die letzte Unterschrift, dass letzte Kreuz. Nun ist es getan, der Neuanfang steht nun fest. Links von mir meine älteste Tochter, gerade vier, auf meinem Arm mein Neugeborenes und an meiner Hand mein Mann. Um uns herum Polizei, Beamte, Trubel. Bald geht es losgeht, los in die Freiheit, in den Konsum und den Wohlstand. Wir hoffen auf mehr, auf neue Chancen in einer neuen Welt. Doch was ist Wohlstand? Wohlstand, Wohlstand, alle sprechen vom Wohlstand. Ist es das wert? Für Geld fliehen? Man muss wohl im Stande sein für sich einzustehen. Für den Wohlstand.
Flucht. Flucht vor ihm, Flucht vor allen. Flucht wie eine Feige. Kann man nicht stark sein? Flüchtlinge fliehen, ich bin kein Flüchtling. Ich bin ich.
Nie wieder weinen wegen ihm, nie wieder Sorgen und Fiebern. Fiebern, Angst haben, nicht schlafen können, Insomnia. Schlafstörung, Plage.
Alleine in die Fremde, auf Hoffnung für mehr. Hoffnung treibt uns an, hält einem am Leben. Ist wie der Atem in meiner Brust. Auf ab, auf ab. Heben senken. Heben senken. Stille
Wie verrückt kann man sein, ohne Sprache und Geld ein neues Leben erfinden. Erfinden können nur Wissenschaftlicher, doch ich bin ich. Doch wer ist überhaupt ich?
Ein Blick nach rechts, er nickt, bestätigt.
Verlassen, wir verlassen unsere Familie, unsere Heimat, unsere Geschichte, unsere Vergangenheit. Überqueren die Mauer, auf Hoffnung für mehr.

9. Juni, heute ist es soweit. Heute geht es los. Ein letzter Blick zurück, auf den alten Block. Der Ostblock - meine Heimat. Ich blickte Mutter und Vater an, ein letztes Mal. Sie gab mir diesen Ring, den ich heute noch trag. Das letzte was ich von ihr hab.
Links von mir meine älteste Tochter, auf meinem Arm mein Neugeborenes und an meiner Hand mein Mann. So überqueren wir im alten Fiat meiner Eltern die Grenze. Auf nach Deutschland, für Hoffnung auf mehr. Es wird alles besser dort drüben, dass musst du mir glauben. Bäume zogen an uns vorbei und hinter uns geht Olsztyn in den grauen Wolken unter. Den Betonbunker haben wir schon Hinter uns gelassen. Die Mauer. Sie ist riesig, gesichert und angsteinflößend. Ich nehme die Hand meiner Tochter, was tut man nicht alles, für ein besseres Leben.
Reisen, wir reisen hinfort. Ich bin noch nie gereist, hab noch nie das Land verlassen.
Eine neue Stadt, so groß, es gibt Orangen, so viele Läden und es scheint nicht so trüb.
Eine neue Welt, eine neue Chance.
Die ersten Tage waren schwer, es gab keinen Sprachkurs, gab keine Hilfe, ich war allein. Wo muss mein Kind zur Schule? Wo bekomme ich eine Wohnung her? Wer hilft mir?
Allein in einer fremden Welt, die mich alleine ließ, als ich sie am meisten brauchte.

Mama, ich glaubte jedes Wort eines Kriegers, glaube, dass dort alles besser wäre.
Die Schule, keiner versteht mich, Mama, die Kinder verstehen mich nicht, übersehen mich, ich
würd so gern dabei sein. Meine Noten brachen ein, leben in den Tag hinein.
Feinde machen, durchdrehen! Ich möchte zu Oma zurück, ich lerne die Sprache im Leben nicht. Bitte lass mich zurück!
Ich gebe alles und noch mehr, kriege nichts. Außer Hass. Hass ist ein großes Wort. Doch umso größer ist der Hass, der mir entgegengebracht wird. Hass durchdringt die Menschen. Fremdenfeindlichkeit, Hass. Fühle mich hässlich, hasse mich selbst.
Ich habe dir geglaubt, habe deinen Worten Gehör geschenkt, wurde nur enttäuscht. Schau mir in die Augen und sag mir, dass ich hier glücklich werd´!
Ich bin allein, ohne Sprache, ohne Glauben, ohne Freunde. Wirklich, jeder Ort wär´ mir lieber.
Noch heute mache ich dir Vorwürfe. Hast mein Leben zerstört, aber macht doch nichts. Bringt ja kei'm was. Was nun? Was jetzt? Ruf Oma an, ich komme nach Haus!

Mein Kind hör mir doch zu, rede deutsch. Willst du nicht gemocht werden? Pass dich an, gib dir Mühe, lass ihnen Zeit. Du bist fremd, siehst anders aus, sprichst anders. Hier werden sich deine Träume erfüllen können, greif nach den Sternen. Schau, die Engel tragen dich im Licht. Wir sind im Paradies, dort wo jeder sein will, schätze was du hast. Schau dich um, so viele Marken, Auswahl, Obst, Gemüse in allen Farben, die man sich nur vorstellen kann! Wie kannst du es hassen, reiß dich zusammen! Wir haben alles gegeben und noch mehr! Undankbar. Undankbar? Wofür soll ich dankbar sein? Unverständnis, Ekel, Hass.

Doch Ich schäme mich Für meine Herkunft, für die, die ich bin. Muss schweigen, bevor die anderen den richten. Nur Richter sollten richten, wer gab ihnen diese Macht? Richten, Richter, Hass.

Heute, Fragen, kreuze was an, sonstiges. Was bin ich? Wozu gehöre ich? Sonstiges. Weder hier, noch da, keiner will mein Zuhause sein. Die Wahl so unstimmig wie das Leben selbst. Wählen, sogar zwei Wahlscheine erhalte ich, weil keiner mein zuhause kennt. Wie soll ich für ein Land stehen, das nicht hinter mehr steht? Zu dem ich nicht gehöre?
Welchen Teil von mir lebe ich heute aus? Was ist heute angebracht? Wie integriere ich mich am besten, so nahtlos wie eine Schallplatte soll der Übergang sein. Integration? Wie denn, in welches Land? Lügen über mich selbst, lügen, wieso lüge ich, nur weil es keine Wahrheit gibt? Immer nach der Richtung fragend, die Menschen zeigen mir den Weg wie Hexen. Sind angeekelt, bin die Fremde, Heimatlos, allein.
Kästchen, wieso immer Kästchen? Wieso Schubladen? Ich bin, wie ich bin, brauche keine Kategorie, kein Kästchen. Ich bin ich und kein Kästchen! Doch alle sehen mich als Kästchen. Mein Leben passt in ein Kästchen. Ein Kästchen, dass niemand öffnen möchte. Es ist wie die Büchse der Pandora, voller Hass, Flüche und Verwünschungen. Ich gehöre in den Spalt dazwischen, sonstige. Das einzige Kästchen, welches ich je beantworten konnte, war das für Deutschland.
4 Kreuze für Deutschland.

Vanessa Köllermann: text 12

Ich zieh die Tür zu. Du wartest. Wir gehen los. „Nach rechts?" Du nickst. Wir laufen. Straßenlaternen werfen Licht auf uns. Es ist still. Man sieht hier nicht oft Leute. Wir laufen. Ein Auto auf der Straße hinter den Häusern hört man kurz, dann wieder Stille. Mir ist kalt. Ein kleines, helles Licht in meinem Augenwinkel, als du das Feuerzeug benutzt, dann wieder nur das fade Licht der Straßenlaternen. Ich höre das leise Knistern und sehe das Glühen, als du einen Zug nimmst. Dann noch einen und noch einen. Wir laufen. Ich sehe deine Hand in meinem Augenwinkel und nehme an. Höre das Knistern, sehe das Glühen, als ich einen Zug nehme. Dann noch einen und noch einen. Wir stehen an der Kreuzung, müssen über die Straße. Grünes Licht rechts neben uns. Auf der anderen Seite Dunkelheit. Kein Auto, wir laufen. Nun sind da keine Straßenlaternen mehr auf dem schmalen Feldweg. Es ist dunkel, nur der Mond gibt eine wage Vermutung, wie der Weg weiter geht. Egal. Wir laufen. Ich atme ein, spüre das seltsame aber vertraute Gefühl in der Brust. Die Kälte ist verschwunden. Ich nehme deine Hand. Wir laufen. Mein Blick Richtung Himmel. Sterne. Ich weiß, dass du das selbe tust. Wir bleiben stehen. Dein Arm um meine Schulter. Du zeigst mir Satelliten, Sterne, Sternenbilder. Ich bin still. Fasziniert. Deine Stimme ist das einzige, was ich höre. Jetzt noch klarer, wie durch einen Filter. Nur deine Stimme. Und ich frage mich, ob du, wie ich auch, schon immer von den Sternen fasziniert warst. Ein Geräusch etwas weiter die Straße hinunter holt uns aus unserer Faszination. Wir laufen weiter. Du öffnest ein Getränk aus deiner Jackentasche, nimmst einen Schluck und hältst mir die Dose hin. Ich nehme an. Wir laufen. Der süße Geschmack auf meiner Zunge, nun so viel intensiver als sonst. Unser Gespräch von außen komisch vertieft in Themen, die uns sonst egal sind. Wie schnell dreht sich die Erde? Wieso stört es uns nicht? Ich gebe dir die Dose zurück, wir laufen weiter. „Nach links?" Du nickst. Wir laufen. Bäume verdunkeln unseren Weg. Ich blicke weiter in den Himmel, bin fasziniert von dem Schauspiel, welches sich mir bietet. Kahle Äste von den Bäumen verdecken die Sterne immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde. Es sieht aus, als würde der Himmel glitzern. Ich sage dir, was ich sehe. Du lachst kurz. Ich weiß wieso und schmunzle. Du hast recht, ich weiß. Wir laufen. Das ist der Rückweg. Gerne würde ich weiter verweilen an diesem Ort, in diesem Moment mit dir. Aber uns wird kalt und wir beiden wollen nicht mehr lange laufen. Wollen uns hinlegen, ausruhen, entspannen. Ich weiß, dass ich die Erinnerung an diese Nacht behalten werde. Für mich sind diese Momente besonders und wer weiß, für dich vielleicht auch. Ich weiß es nicht. Aber weißt du es? Weißt du, wie wichtig mir solche Momente mit dir sind? Weißt du, was ich für dich fühle? Weißt du, wie sehr ich die Zeit mit dir genieße und schätze? Ich hoffe es. Will, dass du es weißt, aber zu oft will ich es dir nicht sagen, denn was, wenn es dich nervt? Was wenn ich dich einenge, dich überfordere, dich so verscheuche und verliere? Nein tue ich nicht, weiß ich, sollte ich wissen, aber die Angst bleibt und deshalb bin ich vorsichtig. Straßenlaternen. Wir sind wieder in der Siedlung und bald an meinem Haus. Ich schließe die Tür auf, meine Finger steif von der Kälte und wir gehen rein. Meine Augenlider schwer, will gar nicht in den Spiegel gucken. Ein blick zu dir und ich weiß, du denkst dasselbe. Grinst mich durch rote schmale Augen an und ich grinse zurück. Ganz ohne Anlass, ohne Grund, wir können nichts dafür. Dieser Abend ist noch nicht vorbei, aber ich weiß er wird es bald sein. Eigentlich will ich es nicht, will nicht, dass du gehst, will, dass du bleibst, aber weiß, es muss sein. Weiß auch, dass es nicht für immer ist, weiß, dass ich dich morgen wieder sehen werde. Und wenn nicht morgen, dann übermorgen. Und wenn nicht übermorgen, dann den Tag danach. Ich weiß, dass ich dich wiedersehen werde.

Semih Kemerli: Die Brücke
Ach du Brücke,
du trennst mich von dem, was ich liebe,
und von dem, was ich vermisse.
Ich wünsche mir beides von dir,
doch du gibst mir nur eines.
Ich soll mich entscheiden,
Hayat oder Leben,
Sevda oder Liebe,
Aile oder Familie.
Doch die Frage, die ich mir stelle,
kann ich nicht beantworten.
Ach du Brücke,
wer hat dich aufgestellt?