Integration ist Teamarbeit – Ein Erfahrungsbericht

Gedichtanalysen, politische Diskussionen, naturwissenschaftliche Formeln – und all das auf Deutsch! Tausend neue Herausforderungen prassen auf Marvincox A. und Temesgen T. ein. Mathe, Biologie und Sport sind für die beiden neuen Schüler der 9b da schon etwas einfacher, bedenkt man, dass sie erst seit wenigen Wochen eine deutsche Schule besuchen und zuvor wenig oder sogar gar kein Deutsch konnten. Sie kamen als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge aus Nigeria bzw. Eritrea mach Deutschland.

Am St. Michael-Gymnasium wurden sie sehr herzlich aufgenommen: Ihre neue Klasse hieß sie willkommen. Schnell hatten sich erste Paten gefunden, die dabei halfen, sich im Schulalltag zurechtzufinden. Das gegenseitige Beschnuppern begann. Englisch hilft manchmal, meist unterstützen Gesten die Kommunikation, auch wenn die zusätzlichen Deutsch-Stunden schon Früchte tragen.

Sie zu unterrichten ist eine anspruchsvolle Aufgabe. „Am Anfang hatte ich mich mit eigens für die beiden angefertigtem Unterrichtsmaterial darauf eingestellt, noch stärker binnendifferenziert zu arbeiten – zusätzlich zur individuellen Förderung der Leistungsschwächeren. Es zeigte sich jedoch schnell, dass nicht Trennung, sondern Partizipation der Schlüssel für einen gelungenen gemeinsamen Unterricht ist. Also stellte ich auf vielseitige Gruppenarbeiten um; so kann in den einzelnen Teams jeder eine Aufgabe übernehmen, die ihm gerecht wird und ihn da abholt, wo er steht. Zudem findet auf diese Weise viel mehr Interaktion statt.“, so die Klassenlehrerin Sabine Mendel. Sie hat im letzten Jahr schon Erfahrung mit dem Unterrichten syrischer Flüchtlingskinder gemacht und ist erstaunt über deren Erfolg und vor allem über ihre extreme Motivation.

Wichtigstes Ziel ist es zunächst, die deutsche Sprache zu lernen und einen Alltagswortschatz aufzubauen. Dafür sind Sprechen und Kommunikation das A und O. Auf diese Weise machen alle gemeinsam Fortschritte und lernen mit- und voneinander. So ist es ein Unterschied, ob man zum Beispiel das Thema Migration im Politikunterricht theoretisch behandelt oder plötzlich Mitschüler hat, die persönlich davon betroffen sind. „Die große Weltpolitik erhält mit einmal ein Gesicht - bei uns sogar zwei!“, so Pauline Rensing, Klassensprecherin der 9b.

Allein nach einer langen Fluchtgeschichte wieder in einen geregelten Alltag zu finden, ist schwer. Dazu kommen bei vielen Flüchtlingen traumatisierende Erfahrungen, die sie belasten. „Sich selbst zu organisieren, sich an die neuen Alltagsrituale zu gewöhnen, Selbstvertrauen zu entwickeln und konkrete Pläne für die eigene Zukunft zu entwickeln, hoffnungsvoll in die Zukunft blicken und so etwas wie Gottvertrauen wieder finden zu können, all das sind die eigentlichen Herausforderungen, vor denen diese Kinder und Jugendlichen stehen“, erklärt Mendel. Hier kann die Schule begleiten, stärken, ihren Beitrag leisten.

Wichtig sei es daher, eine ruhige Lernatmosphäre zu schaffen und Abläufe transparent zu machen, so Mendel. Es sei eine schöne Arbeit, einen großen Einfluss darauf nehmen zu können, wie jugendliche Flüchtlingen unsere Gesellschaft und ihre Werte sowie Rituale wahrnehmen, und ihnen Wege aufzuzeigen, daran teilzunehmen. Und das geht nur über Begegnungen, Dialoge, Bildung. Eine tägliche Arbeit, die belohnt wird. „Auf das, was Temesgen und Marvincox hier leisten, bin ich unglaublich stolz!“, resümiert Mendel.

Die Politik muss jetzt die Rahmenbedingungen optimieren, v.a. psychologische Begleitung, mehr Geld für Sprachkurse vor Ort und speziell ausgebildete Lehrkräfte, die in integrativen Klassen begleitend tätig sind. Die Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte muss als Dauerbaustelle anerkannt und - statt mit purem Aktionismus angegangen - systematisch gestaltet werden.

Dennoch bleibt die Gestaltung der Zukunftschancen dieser Kinder und Jugendlichen eine Aufgabe aller – der Betreuer, der Lehrer, der Mitschüler, des Umfeldes und nicht zuletzt ihrer selbst. Doch gemeinsam, so zeigen es die Erfahrungen am St. Michael-Gymnasium, ist jeder Anfang nicht ganz so schwer.

Hintergrundinformation: Am St. Michael-Gymnasium werden zur Zeit sechs Schülerinnen und Schüler mit Fluchtgeschichte unterrichtet. Die Kinder und Jugendlichen aus Syrien, Nigeria und Eritrea erhalten zusätzlichen Deutschunterricht, sind aber ansonsten in Regelklassen der Jahrgangsstufe 7 bis 9 integriert, um ihnen sowohl einen angemessenen Sprachunterricht als auch intensive Kontakte zu Gleichalterigen ermöglichen zu können. Nach den Sommerferien startet zusätzlich eine WELT-Klasse mit insgesamt ca. 15 minderjährigen Flüchtlingen, die ein ähnliches Konzept verfolgt und von einem speziell dafür fortgebildeten Lehrkräfteteam des St. Michael-Gymnasiums betreut wird.